Buchauszug: Pierre Kandorfer, Lehrbuch der Filmgestaltung

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3.8 Dramaturgie

Die Dramaturgie ist als "Lehre von Wesen, Wirkung und Formgesetz des Dramas" ein Teilgebiet der Poetik. Filmschaffende aus dem Bereich des Tatsachenfilms hüten sich deshalb häufig vor der Überbewertung dramaturgischer Regeln, die nach ihrer Ansicht vor allem im Spielfilm ihre volle Berechtigung besitzen. Geschickte Autoren und Regisseure sind sich jedoch der Möglichkeiten dramaturgischer Gesetze bewußt und nutzen sie entsprechend.

Erkenntnis: Eingleisig aufgebaute Filme oder Filmpassagen dürfen 8 bis 10 Minuten nicht übersteigen!

Der Grund dafür ist einleuchtend. Etwa sechzehn Stunden verbringt der Mensch täglich bei Bewußtsein. Sollte er versuchen, alles Erlebte zu speichern und zu verarbeiten, wäre er in kürzester Zeit völlig überfordert. Deshalb vergißt der Mensch den überwiegenden Teil des Erlebten sofort. Nur die Höhepunkte werden richtig wahrgenommen, registriert, verarbeitet. Sie sind fast ausschließlich dramatischer Art und zeugen meist von Konflikten zwischen Menschen oder Ideen. Elementare Empfindungen beim Erleben eines Dramas sind deshalb:

a) Erfolg

b) Niederlage

c) Freude

d) Trauer

e) Liebe

f) Haß

Ein charakteristisches Merkmal des Dramas liegt im Kampf. So kommt es in den meisten Spielfilmen zur üblichen Gegenüberstellung zwischen der Hauptperson und seinem Gegenspieler. Doch nicht immer stehen sich im Drama Personen als Figuren gegenüber. Oft sind es auch Ideen, Ansichten, geistige Strömungen oder sogar Weltanschauungen.

(Filmberichte und andere Tatsachenfilme müssen nicht selten bestimmten Chronologien unterliegen, woraus sich zwangsläufig die Eingleisigkeit ergibt. Wenn hier bereits formale Gesichtspunkte der dramaturgischen "Aufbereitung" im Wege stehen, so sollte der Autor versuchen, den Film inhaltlich spannender zu machen.)

Das oberste Ziel der Dramaturgie liegt in ihrer elementaren Bestrebung, die Zuwendung des Zuschauer so intensiv wie möglich werden zu lassen.

Die "Spannung" ist ein Sammelbegriff für Erzeugung starker emotionaler Zuwendung. Um die erforderliche Zuwendung zu erzielen, muß sich der Zuschauer möglichst weitgehend mit Figuren oder Sachverhalten im Film identifizieren. Zu oder Abneigung hervorzurufen, ist eine wesentliche Voraussetzung zur Konstruktion eines filmdramaturgischen Spannungsfeldes.

Für diesen Zweck stehen uns u. a. folgende emotionale Elemente zur Verfügung:

a) Kontraste und Paradoxien

(Sie erwecken den Wunsch nach Aufklärung.) (Kontrast der Charaktere: Beispiel: Erwachsener Mann fürchtet sich vor einem harmlosen Tier.)

b) Unwissenheit der Handelnden

Beispiel: Zuschauer weiß mehr als Darsteller.

c) Überraschung

Beispiel: Überraschende Wende im Handlungsverlauf (darstellbar z. B. als "harter Schnitt").

d) Neugierde

Beispiel: Interessante Bildkompositionen oder Formulierungen, die den Zuschauer neugierig machen.

e) Retardierung

Beispiel: Die Problemlösung wird durch Parallelhandlung hinausgeschoben, wodurch die Neugierde beliebig steigerbar ist. Selbstverständlich muß die Parallelhandlung glaubwürdig motiviert sein.

f) Erregung

Beispiel: Sex, krasse soziale Unterschiede (Wohlstand Armut).

g) Humor

Beispiel Humorvolle Einlagen jeder Art. (Sie müssen jedoch unbedingt zu Stilart und Gesamtkonzeption des Films passen.)

Handlungsverlauf in der Fraz'schen Pyramide

Der einfache dramaturgische Bogen einer Tragödie verläuft etwa folgendermaßen:

a) Während der Expositionsphase wird der Zuschauer mit der Ausgangslage bekannt gemacht: der Vorgeschichte und den Hauptfiguren. Man spürt den sich anbahnenden Konflikt.

b) Ein Ereignis setzt den Konflikt in Gang. Gegenspieler wenden sich gegen die Hauptfigur. Eine Auseinandersetzung beginnt, die Zuwendung des Publikums steigt.

c) Klärung/Höhepunkt der Hauptfigur, für die sich Möglichkeiten abzeichnen, Gegenspieler oder Widerstände zu überwinden. In diesem Stadium identifizieren sich Zuschauer sehr intensiv mit der Hauptfigur.

d) Wende in der Handlung. Unerwartete Initiativen oder Aktivitäten des Gegenspielers führen zum Niedergang.

e) Neutralisierung der Gegensätze, Untergang der Hauptfigur.

Wie in der Franz'schen Pyramide grafisch sichtbar, verläuft die Komödie symmetrisch zur Tragödie:

a) Exposition

b) Ein Ereignis setzt den Konflikt in Gang

c) Klärung/Tiefpunkt der Hauptfigur

d) Wende durch äußere Initiative zum Guten

e) Neutralisierung, "Happy End"

Am Beispiel eines der bekannten Märchen läßt sich die Konstruktion,eines einfachen dramaturgischen Bogens (in Anlehnung an van Appeldorn) gut demonstrieren:

a) Die Exposition macht die Ausgangslage klar.

Ein kleines Mädchen wird zur Großmutter geschickt. Entgegen den Weisungen der Mutter pflückt es im Wald Blumen. Dabei wird es vom Gegenspieler (Wolf) gesehen.

b) Ein Ereignis setzt den Konflikt in Gang.

Akteure treten "in Aktion", die Auseinandersetzung beginnt. Der Wolf nutzt die Situation und verschlingt die Großmutter, Die Schuld trifft das Mädchen, das durch sein pflichtwidriges Verhalten die Tat ermöglicht hat.

c) Die Verhältnisse beginnen sich zu klären.

Es zeichnen sich Möglichkeiten ab, den Gegenspieler zu überwinden. Der Zuschauer identifiziert sich stark mit der Hauptfigur. Die Gefahr ist jedoch noch nicht gebannt.

Das Mädchen trifft bei der Großmutter ein und erkennt die Situation. Auch dem Mädchen droht Vernichtung, doch durch geschickte Fragen zögert das Mädchen die Entscheidung hinaus.

d) Eine unerwartetete Initiative verkehrt die Verhältnisse

Die Handlung bewegt sich "abwärts". Der Jäger tritt auf und füllt den Bauch des Wolfes mit Steinen.

e) Neutralisierung der Gegensätze

Die Auseinandersetzung kommt zum zwangsläufigen Ende. Es stellt sich heraus, daß die Großmutter noch lebt. Das Problem ist damit gelöst.

Nach dem Schema des einfachen dramaturgischen Bogens aufgebaute Handlungen sind einem strengen Zeitlimit unterworfen. Zehn bis zwanzig Minuten sind das Äußerste, was eine solche dramaturgische Einheit "trägt". Die Filmkunde kennt in diesem Zusammenhang einige Grundregeln:

a) Der einfache dramaturgische Bogen darf niemals künstlich in die Länge gezogen werden.

b) Einfache dramaturgische Bögen dürfen nicht episodenhaft "aneinandergehängt" werden, denn auch eine Episoden Reihe ist eingleisig (obgleich einzelne Episoden in sich höchst dramatisch sein können). "Von allen Fabeln und Handlungen sind nun die episodischen die schlechtesten. Episodisch nenne ich eine Fabel, in weicher die einzelnen Handlungen nicht nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit auseinander hervorgehen. Solche Stücke werden von schlechten Dichtern gedichtet, weil sie es nicht besser verstehen" (Aristoteles).

e) Der erste dramaturgische Bogen darf nicht enden, bevor ein anderer beginnt. Der Übergang darf jedoch nicht zufällig, sondern muß unter allen Umständen zwingend erforderlich sein.

d) Dramaturgisch geschickt aufgebaute Konstruktionen verfügen über einen großen Bogen (der die Handlung "zusammenhält") und mehrere kleinere dramaturgische Einheiten. Die "Teilbögen" können sowohl das Schema einer Tragödie als auch den Aufbau einer Komödie besitzen.

e) Solche Handlungsverläute benötigen außer den Hauptfiguren (Hauptflgur und Gegenspieler) auch Nebenflguren. Ihre Schicksale und Konflikte müssen mit der Haupthandlung direkt verbunden sein und sie empfindlich beeinflussen.

f) Dramaturgische Handlungskonstruktionen sind nur dann optimal, wenn sie über ein ständiges Nebeneinander von abfallenden und ansteigenden Abläufen verfügen. Durch derlei "integrierte Konstruktionen" führt der Autor mehrmals Wenden herbei, die das Interesse der Zuschauer wachhalten.

Balázs beschäftigte sich bereits in der Frühgeschichte der Filmkunde mit der vielfältigen Wechselbeziehung zwischen Inhalt und Form des Films und stellte die Prämisse auf: Der Inhalt bestimmt die Form! So einfach sich dieser Grundsatz auch anhören mag, er ist außerordentlich schwer auf die praktische Arbeit übertragbar. "Das dialektische Wechselverhältnis von Inhalt und Form ist irgenwie ähnlich dem Verhältnis zwischen Flußwasser und Flußbett. Das Wasser ist der Inhalt, das Bett ist die Form. Zweifellos hat sich das Wasser irgendeinmal ein Bett gegraben, also der Inhalt die Form geschaffen. Seit jedoch das Bett des Flusses besteht, sammelt es die Gewässer der Umgegend und verleiht ihnen Form. Also formt die Form den Inhalt. Gewaltige Überschwemmungen sind dazu nötig, daß Flüsse sich, über ihr altes Bett hinaus, neue Formen erzwingen" (Balázs).

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Das Lehrbuch der Filmgestaltung von Dr. Pierre Kandorfer gilt seit seiner ersten Auflage, 1976, als das Standardwerk für Filmschaffende und Filmstudenten.Die 6. Auflage wurde im technischen Teil gründlich aktualisiert und überarbeitet.

263 Seiten mit 100 SW-Abbildungen ·

Format 16,5 x 24 cm

Kandorfer, Pierre:

Lehrbuch der Filmgestaltung

theoret. techn. Grundlagen d. Filmkunde

mediabook Verlag, D-55234 Gau-Heppenheim

www.mediabook-verlag.de

ISBN 3 932972-18-X

 


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